Verschwörungs-„Theorien“

Wir brauchen KEINE Verschwörungstheorien

Die Corona-Krise hat Verschwörungstheorien einen riesigen Nährboden gegeben. Es kursieren die abenteuerlichsten Thesen. Wozu aber brauchen wir Verschwörungstheorien bzw. -mythen?

Der Begriff Verschwörungsmythen wäre eigentlich besser geeignet, da Verschwörungs-Narrative häufig so erzählt werden, dass sie nicht falsifizierbar sind, d.h. dass man sie nicht widerlegen kann.

Es gibt viele psychologische Gründe dafür, dass man sich in Situationen, die komplex und überwältigend und in denen man sich machtlos fühlt, einfache Erklärungen zurechtlegt. Zumindest für die Corona-Krise scheint das zu gelten. Aber ich will die Frage nach den psychologischen Ursachen gar nicht weiter vertiefen, sondern einmal die Logik von Verschwörungstheoretiker*innen nutzen und mich darauf konzentrieren, wem solche Verschwörungstheorien eigentlich nützen.

Wenn ich komplexe und demokratisch nicht kontrollierbare Machtstrukturen aufgebaut hätte, müsste ich damit rechnen, dass sich in der Bevölkerung ein gewisses Unbehagen verbreitet. Auch wenn nicht alle Leute die von mir aufgebauten Beeinflussungsprozesse durchblicken, irgendwie würden die Leute schon merken, dass da etwas schief läuft. Und ich möchte natürlich nicht, dass die Leute dann auf die Idee kommen, die von mir aufgebauten Machtstrukturen und -prozesse offenzulegen, diese in der Bevölkerung als Problem bewusst zu machen und Aktionen gegen mein System zu starten.

In so einer Situation wäre es mir höchst willkommen, wenn Leute stattdessen irgendwelche Verschwörungs-Märchen in die Welt setzen würden und anfangen, gegen Windmühlen zu kämpfen. Gegen unsichtbare, verborgene Feinde. Eine geheime Weltregierung, Chemtrails, vermeintliche Zwangsimpfungen, eine Plandemie. Ja wunderbar, was besseres könnte mir – als Mächtigem – gar nicht passieren. Das Unbehagen ist von mir abgelenkt.

Und es gäbe noch einen großen Zusatznutzen: Der Diskurs über illegitime Machtstrukturen wäre ins Reich des Irrationalen verwiesen. Immer, wenn jetzt jemand versucht, illegitime Machtstrukturen aufzudecken, könnte ich süffisant lächeln und sagen, dass das ja wohl eine Verschwörungstheorie sei. Und schon wären die Machtkritiker*innen raus aus dem Diskurs der Vernünftigen.

Dabei liegen die Macht-Probleme offen vor unseren Augen. Um nur die offensichtlichsten Themen zu benennen:

  • G__gl_ hat ein Imperium aufgebaut, das jedes Unternehmen, jede Institution, die im Internet gefunden werden will, zwingt, nach den Regeln von G__gl_ zu spielen. Für Unternehmen bedeutet das: G__gl_ zu bezahlen.
  • Das gleiche G__gl_ kennt mein gesamtes Bewegungsprofil, weiß, welches Geschäft ich wann betreten habe, wer meine Kontakte sind, welche Webseiten ich aufgerufen habe usw.
  • G__gl_ ist natürlich nicht nur eine Suchmaschine, sonder die Spitze eines Eisbergs, der „Alphabet“ heißt. Insgesamt hat der Alphabet-Konzern eine Reichweite informationeller Macht aufgebaut, die sich inzwischen jeder demokratischen Kontrolle entzieht. Die meisten Menschen würden vermutlich noch nicht einmal die Notwendigkeit erkennen, solche Art von Macht zu kontrollieren.
  • Zwischenfazit: Die allseits bekannten Aktivitäten von G__gl_/Alphabet alleine übersteigen heute schon alles, was sich ein Verschwörungstheoretiker vor 25 Jahren auch nur ausdenken hätte können.
  • Die Algorithmen von facebook, youtube & Co. steuern gezielt unsere Aufmerksamkeit, mit dem Ziel, uns möglichst lange auf der jeweiligen Plattform zu halten, um möglichst viel Werbung platzieren zu können. Noch nie in der Geschichte der Menschheit konnte die Aufmerksamkeit so vieler Menschen aktiv gelenkt werden.
  • Gleichzeitig erleben wir, wie sich in China – scheinbar freiwillig – Menschen einem System der sozialen Kontrolle unterziehen, das sich wie eine Realisierung des berühmten „Big Brother“ ausnimmt. Science fiction wird bittere Wirklichkeit.
  • Amazon hat inzwischen eine Marktmacht erreicht, gegen die kleinere Unternehmen praktisch keine Chance mehr haben. D.h.: Amazon diktiert die Bedingungen, schneidet sich selbst das größte Teil aus dem Kuchen und wird zum Einzelhandels-Diktator, dem wir uns alle gerne unterwerfen, weil es so bequem ist.
  • Private Medien finanzieren sich durch Werbung. Und wer zahlt, schafft an. Nicht direkt natürlich – aber es ist schon klar, dass eine von den Interessen der Werbetreibenden grob abweichende Berichterstattung und Meinungsbildung das Werbegeschäft der jeweiligen Medien nicht gerade fördern würde. Das bedeutet nicht, dass in diesen Medien bewusst Lügen verbreitet würden, aber es bedeutet schon, dass die Auswahl der Themen nicht nur durch deren mutmaßliche Attraktivität für die Medienkonsumenten*innen (Reichweite der Werbung), sondern auch durch deren Kompatibilität mit den Aktivitäten der Werbetreibenden beeinflusst wird.
  • Despoten und Anti-Demokraten regieren in vielen Ländern der Welt.
  • Das besonders tragische: Manche sind sogar in formal-demokratischen Prozessen gewählt worden: Erdogan, Trump, Bolsonaro, Orban, Putin – die sind alle gewählt. Bedeutet das nun, dass sie demokratisch legitimiert sind? Nun, das hängt davon ab, inwieweit man die Prozesse, die zur formalen Wahl dieser Personen geführt haben, als demokratisch bezeichnen möchte. Wenn man z.B. breite Bildung, partizipative Meinungs- und Willensbildungsprozesse in der Bevölkerung, Begrenzung von Kapitaleinfluss und Lobbyismus, Verbot der Behinderung oppositioneller Parteien, etc. als Voraussetzungen für echte Demokratie ansieht, dann sind die oben genannten Personen sicherlich nicht demokratisch legitimiert.
  • China wird nach wie vor von einem Ein-Parteien-System kontrolliert, das alles für den eigenen Machterhalt tut. Durch den Aufbau einer gigantischen weltumspannenden Marktmacht sitzen chinesische Investoren inzwischen überall auf der Welt. In dem Bestreben, Gewinne zu maximieren, war es westlichen Unternehmen egal, was die Folgen sind, wenn China zum Zentrallieferanten der Welt wird. Das Tafelsilber anderer Nationen geht unmerklich in chinesische Hände über – und gerät damit letztlich in den Einflussbereich eines totalitären Systems.
  • Mit Handelsbündnissen (TTIP & Co.) wird versucht, die demokratische Souveränität von Nationalstaaten gegenüber privaten Unternehmen (Konzernen) einzuschränken – z.B. in der absurden Idee, dass Nationalstaaten z.B. bei der Änderung von Gesetzen von Privatunternehmen vor „Schiedsgerichten“ verklagt werden können, deren demokratische Legitimation und Kontrolle nirgends mehr gegeben ist.
  • Extremer Reichtum in den Händen einzelner und kleiner Gruppen bedeutet zugleich enormen Einfluss, der der demokratischen Kontrolle unterzogen ist und zugleich mutmaßlich dazu genutzt wird, demokratische Kontrolle an sich zu reduzieren. Und wozu, bitte schön, brauche ich jetzt noch Verschwörungstheorien? Na klar, um abzulenken von dem Wahnsinn, der oben nur in wenigen Stichpunkten skizziert ist. Um abzulenken von dem, was vor unser aller Augen in aller Offensichtlichkeit geschieht.

Das sind die Themen, mit denen wir uns beschäftigen sollten, wenn wir das zarte Pflänzchen der Demokratie zum blühen bringen wollen. Wenn wir uns von Einflussnahmen und Interessen schützen wollen, die nicht mehr demokratisch legitmiert und nicht mehr kontrollierbar sind.

Verschwörungstheorien sind eine Ablenkung (die aber selbst natürlich KEINE Verschwörung ist), welche uns daran hindern kann, uns mit den tatsächlichen Problemen zu beschäftigen, die offenkundig vor unser aller Augen liegen.

Illegitime Macht ist gefährliche Normalität